Beim Clean oder Trad Climbing wird nur mit mobilen Sicherungsmitteln gesichert. Nichts bleibt in der Wand, ein Topo ist alles, was die Erstbesteiger zurücklassen. Was in anderen Ländern Standard ist, fristet in der Schweiz ein Nischendasein, weil die meisten Routen mit Bohrhaken abgesichert sind. Gut oder schlecht? Dazu haben wir uns mit den Petzl-Athleten Nicole Grange Berthod, Roger Schäli und Silvan Schüpbach unterhalten.
Ist Clean Climbing eurer Meinung nach der «ehrlichste» Kletterstil?
Silvan Schüpbach: Ich denke schon. Auf Bohrhaken zu verzichten, wirkt auf mich befreiend. Ich geniesse diese Narrenfreiheit. Denn wenn ich als Erstbegeher einen Bohrhaken setze, gehen gleich die Diskussionen los, ob er am richtigen Ort platziert ist oder ob mehr Bohrhaken besser gewesen wären.
Nicole Grange Berthod: Ich würde es nicht unbedingt als den ehrlichsten Kletterstil bezeichnen, aber sicher als den anspruchsvollsten. Man muss mental, taktisch und technisch sehr stark sein.
Roger Schäli: Meiner Meinung nach sollte das Trad-Klettern nicht als der «Heilige Gral» des Kletterns dargestellt werden. Ich plädiere da schon eher für Smart Bolting, also die massvolle Verwendung von Bohrhaken. Ich mache ein Beispiel: Weil man für den Verzicht auf Bohrhaken mit Applaus rechnen darf, führen einige starke Kletterer neue Routen durch lottrige Überhänge, nur weil man dort einen Nagel setzen kann. Dafür verzichten sie auf kaum absicherbare kompakte Platten, die zum Klettern extrem schön wären. Trad-Routen mit ganz wenigen, smart gesetzten Bohrhaken – das wäre für mich der richtige Ansatz.
Lässt es den Nachkletternden auch mehr Interpretationsspielraum?
Silvan Schüpbach: Ja, auf jeden Fall. Ich stelle fest, dass die heutigen Erschliesser eine Art «Farming» betreiben. Sie bohren Routen, die möglichst gerade nach oben führen, damit links und rechts noch Platz für weitere Routen bleibt. Beim Trad Climbing passiert manchmal genau das Gegenteil – man weicht nach links und rechts aus und sucht bewusst die Schwachstellen im Fels. Man kann das auch mit der Malerei vergleichen: Wenn auf einer Leinwand die Pinselstriche nur gerade nach oben verlaufen, ist das langweilig. Schön ist es, wenn der ganze Raum genutzt wird.
Das Trad oder Clean Climbing wird heute vor allem in Grossbritannien und den USA praktiziert. Weshalb spielt es in der Schweiz eine eher untergeordnete Rolle? Ist es eine Mentalitätsfrage – sind Schweizerinnen und Schweizer einfach sicherheitsbewusster?
Nicole Grange Berthod: Das hat verschiedene Gründe. In den USA haben sie im Yosemite Valley und in Utah perfekte Risse, die sich gut absichern lassen. Die Erstbesteigung der Nose wurde damals medial sehr stark thematisiert, womit auch der Kletterstil im Fokus stand. In der Schweiz haben wir eine andere Historie: Wir waren zuerst vor allem Bergsteiger. Und das Sportklettern entwickelte sich erst später zu einer eigenständigen Disziplin. Ich würde auch nicht sagen, dass wir in der Schweiz sicherheitsbewusster sind. Viele meiner Freunde sind in Trad-Routen sicherer unterwegs, weil sie an einem schlechten Tag einfach mehr Zwischensicherungen legen. Persönlich assoziiere ich das Trad-Klettern überhaupt nicht mit erhöhter Gefahr.
Silvan Schüpbach: Man kann das nicht vereinfachen. Für mich persönlich sind die spannendsten Routen diejenigen, die sich gut absichern lassen und gleichzeitig sehr schön sind. Solche Routen gibt es in der Schweiz sehr viele. Diese sind aber fast ausnahmslos mit Bohrhaken abgesichert. Sie sind vereinnahmt von der Idee, die Routen möglichst zugänglich zu machen. So gesehen gibt es durchaus kulturelle Unterschiede. Allerdings nicht unbedingt bezüglich des Risikoverhaltens. Eine durchgebohrte Route entspricht den Schweizer Qualitätsvorstellungen – «e suuberi Sach». Wenn man mit dieser Wertvorstellung eine Routensanierung vornimmt, dann bohrt man halt im Zweifelsfall. Meine Meinung: Wenn sich eine Route einfach mobil absichern lässt, sollte nicht gebohrt werden.
Roger Schäli: Trad-Klettern erfordert brutal viel Erfahrung und man geht auch erhebliche Risiken ein. Ich würde deshalb auch vorsichtig damit sein, diesen Stil offensiv zu propagieren. Auch muss man die Entwicklung vor Augen haben: Wir haben kühne Erstbegehungen wie die Kingspitz-Nordwand oder die Heckmair-Route, die mittlerweile mit Bohrhaken vollgenagelt sind, weil man mehr Sicherheit wollte. Auch für Bergführer mit ihren Gästen. In den 90er-Jahren und mit dem Aufkommen der Akkubohrmaschinen wurde extrem viel gebohrt, weil man es konnte. Und alle fanden es cool, nur noch zu clippen. Plaisir-Klettern war das grosse Thema, und niemand hat das hinterfragt. Jetzt sind wir im Jahr 2024 und stellen fest, dass die Vielseitigkeit fehlt und dass man gewisse Dinge hinterfragen muss.
Silvan Schüpbach: Mir geht es überhaupt nicht um kühne Aktionen. Ich habe Ideen und Projekte für vier Menschenleben. Ich kann mich in unseren Wänden sehr gut verwirklichen, mit genauso viel Psycho, wie ich das will. Was ich allerdings bedaure, ist, dass ich in meinen jungen Jahren ins Yosemite Valley, nach Indian Creek, Patagonien und Grönland fliegen musste, um die Erfahrungen zu sammeln, die ich genauso gut hätte hier machen können, wenn die Felsen nicht schon alle zugenagelt gewesen wären.
Kommt uns das Abenteuer abhanden?
Roger Schäli: Das nicht, aber die guten Einstiegsmöglichkeiten sind viel weniger geworden, weil beispielsweise die einfacheren Routen im Grimsel- oder Furkagebiet alle mit Bohrhaken erschlossen wurden. In einer gebohrten Route die Haken auszulassen, wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber es ist künstlich.
Silvan Schüpbach: Genau – das ist in etwa gleich, wie wenn ich im Winter einem Skitourengeher sagen würde, er brauche sich bloss vorzustellen, der komplette verspurte Pulverschnee sei noch völlig unberührt.
Nicole Grange Berthod: Früher wurde einfach drauflos gebohrt – es war eine Form der Demokratisierung des Klettersports. Mittlerweile sind wir allerdings an dem Punkt, an dem wir realisieren, dass wir diese Diskussion führen müssen. Wie sollen die Routen erschlossen werden? Wie saniert? Was entspricht dem Geist der Pioniere? Welcher Kletterstil passt zur Region? Man muss eine gemeinsame Vision dafür entwickeln, was man den nächsten Generationen überlassen möchte. Im Wallis wurde kürzlich eine Kommission gegründet, die sich genau dieser Sache verschrieben hat.
Stichwort Routenfindung – verleiht das einer Trad-Route die Würze?
Silvan Schüpbach: Das ist ein sehr entscheidender Faktor. Nimm mich als Beispiel: Ich werde den Weltmeistertitel im Sportklettern nicht mehr holen (lacht), genauso wenig eine Schwierigkeit meistern, die irgendjemanden interessiert. Ich klettere nur noch für mich, möchte mich aber trotzdem weiterentwickeln. Aber – ich habe mittlerweile extrem viel Erfahrung. Ich kann den Fels viel besser lesen und verschaffe mir so meine persönlichen Erfolgserlebnisse.
Roger Schäli: 30 Jahre lang wurde in der Schweiz auf Teufel komm raus gebohrt. Niemand hat das hinterfragt. Genauso plädiere ich heute dafür, dass die Entfernung von Bohrhaken auch mal ohne grosses Tamtam erfolgen sollte. Dafür braucht es meines Erachtens nicht viel mehr als die Rücksprache mit dem Routenerschliesser und der lokalen Community. Und natürlich ein intelligentes Vorgehen. Bohrhaken nur dort raus, wo das Platzieren von mobilen Sicherungen möglich ist.
Silvan Schüpbach: Ich bin auch der Meinung, dass Routen ausgenagelt werden müssen, wenn wir die Vielfalt im Klettersport erhalten möchten. Angefangen mit Routen, die einfach, schön und gut absicherbar sind. Übrigens – viele dieser Routen sind ohne Bohrhaken erstbegangen worden. Und sie wurden oft auch ohne Rücksprache mit dem Erstbegeher eingebohrt. Was ich allerdings nie machen würde: den Rückbau in einer Nacht- und Nebelaktion durchführen. Wenn man das macht, ist das eine Kriegserklärung und hinterlässt am Schluss nur Verlierer.
Nicole Grange Berthod: Es braucht meiner Meinung nach eine Unterscheidung: Handelt es sich um eine klassische Route oder um eine Extremroute, die einer Kletter-Elite vorbehalten bleibt. In jedem Fall bedarf es meiner Meinung nach einer breit geführten Diskussion.
Geht uns denn in der Schweiz der Fels aus?
Silvan Schüpbach: Der Fels geht uns natürlich nicht aus, aber die spannenden Möglichkeiten sind trotzdem endlich. Die gut erreichbaren Felsen sind bei uns in der Regel bereits eingebohrt. Ich fände es schön, wenn die Leute sich wieder vermehrt mit dem Fels auseinandersetzen und ihn nicht wie ein Sportgerät betrachten. Es geht mir darum, dass jeder Eigenverantwortung übernimmt – das birgt Risiken genauso wie Chancen.
Roger Schäli: Und worin bestände das Problem, wenn klassische Routen wie Kingspitz und Heckmair am Eiger keine Bohrhaken mehr hätten?
Silvan Schüpbach: Erstens würden die lokalen Bergführer die Bohrhaken sofort wieder einschrauben. Und zweitens sind das auch Routen, in denen schon sehr viele Menschen gestorben sind. Das sind beides Psycho-Touren. Die braucht’s auch, aber das sind nicht diejenigen Routen, die ich primär schützen würde. Solche Routen eröffne ich in meiner Freizeit zur Genüge, und da geht uns der Fels in der Schweiz nicht so schnell aus. Als schützenswert betrachte ich diejenigen Routen, die man selber absichern kann, wenn man die entsprechende Grundausbildung im Trad Climbing genossen hat. Dafür engagiere ich mich.
Nicole Grange Berthod: Spannend finde ich unseren Blick auf das Trad Climbing. In der Schweiz gilt es als etwas Elitäres, das den Profis vorbehalten ist. Das ist nicht überall so. Ich habe letztens einen einwöchigen Kurs mit Schotten geleitet und war sehr erstaunt und inspiriert zu sehen, wie routiniert sie beim Platzieren von Friends waren, obwohl sie «nur» im vierten und fünften Schwierigkeitsgrad kletterten.
Was ist der «Lohn» dafür, eine Route Trad zu klettern?
Nicole Grange Berthod: Man hat eher das befriedigende Gefühl, etwas geschafft zu haben.
Spielen die Kosten für die Ausrüstung eine Rolle in der Entscheidung, ob man Trad klettert oder nicht?
Silvan Schüpbach: Das mag meinetwegen für ein paar wenige Studenten so stimmen. Die Realität ist aber meist eine andere. Die Typen, die mir vorjammern, dass man für Trad Climbing Material für 500 Stutz auslegen muss, sind meist auch diejenigen, die sich danach in ihren VW California setzen, den sie für 90’000 Franken gekauft haben. Hashtag Vanlife …
Wie puristisch soll das Thema Trad Climbing ausgelegt werden – liegen da Stände mit Bohrhaken drin?
Silvan Schüpbach: Ich habe kein Problem damit, auch wenn ich sie persönlich nicht brauche.
Nicole Grange Berthod: Das ist eine gute Lösung – man erlebt einerseits das Trad Climbing, geniesst aber den Komfort und die Sicherheit eines vorbereiteten Standplatzes.
Roger Schäli: In einem Land, in dem es sehr schwierig ist, eine Route in den ursprünglichen Zustand zurückzubauen, stellt das den gut schweizerischen Kompromiss dar. Damit kann man vielleicht die Diskussion vermeiden, ob es noch mehr Bohrhaken braucht.
Wie erleichtert man den Einstieg ins Trad Climbing?
Silvan Schüpbach: Wie beim Sportklettern gibt es auch fürs Trad-Klettern entsprechende Kurse.
Roger Schäli: Wenn wir in jedem Klettergarten zwei drei Trad-Routen hätten, wäre das ein erster grosser Schritt.
Silvan Schüpbach: Wenn jemand ehrgeizig ist und sich weiterentwickeln will, ist das Trad-Klettern viel befriedigender, als irgendwelchen Schwierigkeitsgraden hinterherzuhecheln.
Nicole Grange Berthod: Die Frage nach dem Ziel ist sehr wichtig. Es gibt genug Leute, deren primäres Ziel es ist, in Kontakt mit der Natur zu sein.
Silvan Schüpbach: Man muss ja auch keine 20 Routen am Tag klettern. Vielleicht ist’s auch nur eine, dafür ist’s geil, dass man sie Trad hochgekommen ist. Weniger ist mehr …